Kultur ist nicht entscheidbar

Jede Organisation bekommt die Kultur, die sie verdient, denn sie ist das Gedächtnis einer Organisation. Präziser: die Kultur spiegelt die Vergangenheit der Organisation wider. Sie ist also rückwärtsgewandt und wie man neudeutsch so schön sagt ein „lagging Indicator“. Kultur kann nicht bewusst und zielgerichtet hergestellt werden. Aber warum eigentlich nicht?

Neben dem in den letzten Jahrzehenten vorherrschenden Bild der Organisation als Maschine bietet Niklas Luhmann einen anderen Zugang an. Er beschreibt soziale Systeme (darunter Organisationen) über Kommunikationen. Soziale Systeme sind operativ geschlossen und informativ offen und bilden dabei eine Grenze aus (wie die Haut eines Menschen), um sich von ihrer Umwelt abzugrenzen. Die operative Geschlossenheit führt dazu, dass jegliche Art der Mitteilung zwar an diese (kommunikative) Grenze herangetragen werden kann, aber wie diese innerhalb des Systems verarbeitet wird, ist nicht kausal vorhersehbar und wird durch das System selbst bestimmt. Per Analogie einfacher ausgedrückt: Du kann auch nicht in andere Menschen hineindenken.

Das heißt übrigens nicht, dass du solche Systeme nicht konstruktiv beeinflussen kannst. Aber eben nur beeinflussen, nicht kausal ändern. Hierfür bietet auch die Komplexitätswissenschaft jede Menge Gedankengut an. Doch dazu in einem anderen Beitrag mehr.

Akzeptierst du, dass sich Organisationen als soziale Systeme über Kommunikationsmuster beschreiben lässt und dass diese Systeme operativ geschlossen und informativ offen sind, dann kannst du folgern, dass sich Kultur, als kommunikatives Phänomen in einer Organisation, zwar beobachten und beeinflussen, aber nicht herstellen lässt.

Ein weiteres Beispiel:

Wenn du abends in die Oper gehst, würde dir nicht in den Sinn kommen mit Jogginghose und FC Bayern Pulli dorthin zu gehen. Umgekehrt, wenn du mit deinem besten Freund:in ins Stadion gehst, wirst du vermutlich nicht im Dreiteiler auflaufen. Im Stadion herrscht nun mal ein anderer kultureller Zwang als in der Oper und das, obwohl das niemand definiert hat. Es wurde nie festgelegt, dass es so zu sein hat. Es hat sich einfach so entwickelt. Kultur ist das, was sich hinter dem Rücken der Akteure bildet. Unsichtbare Zwänge, oder einfacher gesagt: Das, was selbstverständlich ist.

Niklas Luhmann bezeichnet Kultur etwas sperrig als „unentscheidbare Entscheidungsprämisse“. Prämisse bedeutet, dass die Kultur zwar Entscheidungen beeinflusst, aber nicht bewusst mitgedacht wird. Sie wird als Voraussetzung schweigend hingenommen, weil sie selbstverständlich ist, aber deren Wahrheitsgehalt wird nicht überprüft. Sie ist wie der Schatten eines Objektes. Du kannst den Schatten selbst nicht verändern. Du musst das Objekt ändern, um den Schatten zu beeinflussen. Eine mehr physikalische Analogie ist die Referenz auf Dunkle Materie. Wir spüren die Auswirkungen, können den Grund dafür aber (noch) nicht erklären.

Wirtschaft funktioniert nach Zahlung / nicht Zahlung

Um zu verstehen, dass ein Unternehmen keine einheitliche Kultur benötigt, bedarf es einer weiteren Erkenntnis. Nämlich der, dass Wirtschaft einzig und allein auf Basis der Leitunterscheidung Zahlung / Nicht Zahlung operiert. D.h. dass der konkurrenzfähige Gewinn das alleinige, hinreichende Kriterium für die Existenz eines Unternehmens ist. Alles andere wie Agilität, New Work, Talentprogramme und Obstkörbe ist notwendig, aber eben nicht hinreichend. Das muss sich ein Unternehmen leisten können.

Kultur löst kein Problem der Wertschöpfung

Mit dem Code Zahlung / nicht Zahlung rückt die Lösung von Problemen der tatsächlichen Wertschöpfung in den Fokus. Denn dort wird Geld verdient. Oder umgekehrt: Kultur löst kein Problem der Wertschöpfung, sondern ist wie bereits erwähnt, das was sich einstellt, wenn Menschen echte Probleme lösen (oder eben nicht). Man könnte auch Fragen: Welches echte Kundenproblem möchte man mit einer Vereinheitlichung der Kultur lösen? Deine Kultur ist dem Kunden nämlich egal. Der will seine Dienstleistung, möglichst schnell, in möglichst hoher Qualität für möglichst wenig Geld. Diese Art von Problemen für andere zu lösen, macht Spaß. Zu sehen, welchen Unterschied die eigene Arbeit für jemand anderen macht, das motiviert. Kulturentwicklungsprogramme ist Selbstbeschäftigung. In der Zeit könnte man stattdessen echte Probleme lösen.

Diversifizierung im Kleinen sorgt für Stabilität im Großen

Einen weiteren spannenden Gedanken, der uns zu dem Schluss bringen wird, dass eine einheitliche Kultur nicht hilfreich ist, gewinnen wir durch einen Blick auf die Natur. Ist dir schonmal aufgefallen, dass es in der Natur keine Homogenisierung gibt? Kein Baum sieht aus wie der andere, keine Blume ist identisch mit der anderen, kein Mensch ist wie der andere und doch erfüllt jedes Mitglied einer Spezies eine sehr ähnliche Aufgabe innerhalb des Ökosystems. Dadurch dass jeder einzelne Akteur im direkten Wettbewerb mit seiner Umwelt (auch andere Mitglieder des Ökosystems) steht, wird er zur Anpassung gezwungen. Der Einzelne kann leicht an den Zwängen zugrunde gehen, doch dadurch gewinnt das Gesamtsystem an Widerstandsfähigkeit. Die Diversifizierung im Kleinen sorgt für Stabilität im Großen. Fehlende Variation bringt keine neuen Ideen hervor, die sich in Krisenzeiten als überlebenswichtig herausstellen könnten. Der Aufbau von Redundanz, in den Teilen der Wertschöpfung, bei der die Ausnahme die Regel ist, ist eine Investition in die Zukunft. Variationen, die sich als schädlich zur Lösung von Problemen der Wertschöpfung erweisen, werden abgestoßen. Alles, was nicht schädlich ist, bleibt und sorgt für die Vielfalt, die wir in der Natur so schätzen.

Ob die Natur nun als gutes Vorbild herhalten kann oder nicht bleibt jedem selbst überlassen. Fakt ist aber, dass die Natur das wohl resilienteste System ist, das ich kenne. Und ich lehne mich nicht zu sehr aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass es auch die Menschheit überdauern wird. Wer also was über Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Umweltbedingungen lernen möchte (und genau das müssen Unternehmen mehr und mehr tun, um sich in der Wirtschaft zu behaupten), kann in der Natur viel lernen. Homogenisierung, ob in der Kultur, in der Führung oder im Mindset, ist nicht die Antwort. Ganz im Gegenteil, sie schadet. Und der Schrei nach einer einheitlichen Kultur wird auch wieder verschwinden. Wie alle Moden vorher auch.

Mehr zu dem Thema auch im Podcast von David Symhoven auf Spotify oder Apple Podcast und überall wo es sonst Podcasts gibt.

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