Alles muss „agilisiert“ werden. Hierarchie lähmt. Hierarchie muss abgeschafft werden. Um heutzutage bestehen zu können, müsse man „selbstorganisiert“ arbeiten können, was auch immer das bedeuten mag. Dem entgegen steht die schon fast militärischen Strukturen der Großkonzerne. Nichts darf selbst entschieden werden. Der Prozessgehorsam als der heilige Gral für die steile Karriere. Die Dichotomie und der Idealismus ist ein Anzeichen fehlender Unterscheidungen. Welchen Beitrag liefern Hierarchien in Organisationen? Sind sie notwendiger Bestandteil oder nicht? Eine Frage, die sich nicht in einem Artikel beantworten lässt. Hier dennoch ein Versuch. Inspiriert wurde ich durch das Buch „Einführung in die systemische Organisationstheorie“ von Fritz B. Simon.

Die zweiwertige Logik von Raum und Zeit

Der wesentliche Unterschied und auch Vorteil von Organisationen gegenüber einzelnen Individuen (Akteuren) ist, dass sie nicht an die zweiwertige Logik von Raum und Zeit gebunden sind. Wenn ein Individuum zwei Ereignisse zur selben Zeit beobachten kann, dann müssen diese räumlich getrennt sein. Da der Mensch sich immer nur an einem Ort gleichzeitig aufhalten kann, müssen Handlungen zeitlich voneinander getrennt sein. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Ein Mensch befindet sich an einer Weggabelung. Er erhält folgende Handlungsanweisungen: (1) Geh nach links – Gehst du nach rechts wirst du bestraft. (2) Geh nach rechts – Gehst du nach links wirst du bestraft. Diese paradoxe Handlungsanweisung (pragmatische Paradoxie nach Paul Watzlawick et al. 1967, S. 178 ff.) kann nicht logisch richtig entschieden werden. Die Frage nach dem richtigen Weg ist unentscheidbar – eine sogenannte „unentscheidbare Entscheidungsprämisse“. Nicht offensichtlich ist, dass es neben den vorgegebenen zwei Handlungsalterantiven noch zwei weitere gibt. Dadurch ergibt sich ein „Tetralemma“.

Gehe nach rechts (nicht nach links)

Gehe nach links (nicht nach rechts)

Gehe weder nach rechts noch nach links

gehe sowohl nach rechts als auch nach links

Die einzigartige Qualität von Organisationen

Die Lösung sowohl nach rechts als auch nach links zu gehen, ist für ein Individuum unmöglich. Die Lösung des Problems liegt in der Bildung einer Organisation. In Organisationen wird die Handlungsunfähigkeit einzelner Akteure durch die Koordination vieler widersprüchlich zueinander aber in sich widerspruchsfreien agierender Subsysteme (z.B. Abteilungen) ersetzt. Die Organisation unterscheidet sich vom Individuum dadurch, dass sie gleichzeitig Handlungen ausführen kann, die sich gegenseitig logisch ausschließen.
Dadurch bleibt sie handlungsfähig, obwohl die Abteilungen widersprüchlich agieren. Eine Abteilung läuft nach rechts, die andere nach links, eine weitere geht weder nach rechts noch nach links und dadurch sind in der Organisation alle Handlungsalternativen gleichzeitig ausgeschöpft. Sie geht sowohl nach rechts als auch nach links und weder nach rechts noch nach links. Sie kann „Paradoxie entfalten“ (Luhmann 1993, S 294). „Die Einheiten (Abteilungen) bilden gemeinsam eine Struktur, deren definierendes Merkmal die Unentscheidbarkeit ist. Denn die Organisation kann sich nicht dauerhaft für die eine oder andere Seite entscheiden, wenn beide (viele) Funktionen für die Organisation lebenswichtig sind.“ (Simon 2019, S. 120)

Hierarchie schafft Handlungsfähigkeit

Auf Basis dessen gewinnt die Hierarchie eine ganz andere Bedeutung. Hierarchie sorgt dafür, dass die Organisation handlungsfähig bleibt, indem sie Entscheidungsprämissen zur Verfügung stellt, auf Basis derer neue Entscheidungen getroffen werden können. Und damit ist nicht die Sachautorität gemeint, weil die meisten fachlichen Entscheidungen von denen getroffen werden (müssen!), die über das nötige Fachwissen verfügen, sondern das Auflösen der zwangsläufig auftretenden widersprüchlichen Handlungsinteressen, die durch das gleichzeitige ausführen widersprüchlicher Aktionen der Abteilungen, auftreten. In Situationen, in denen genug Zeit zur Kommunikation ist, gewinnen Kompetenzen und Erfahrungen an Bedeutung, die nicht an der Spitze der Hierarchie konzentriert sind. Im besten Fall sind so Entscheidungen „intelligenter“, als die des Einzelnen (Simon 2004, S.156 ff.). Aber Hierarchie hat die Aufgabe die wesentlichen Umwelten einer Organisation zu beobachten und darüber zu informieren. „Man kann etwa sagen, dass sich die Funktion und Legitimation hierarchischer Unterordnung aus den besseren oder wichtigeren Umweltkontakten ergeben, die sich an der Spitze zentrieren lassen. Der Chef ist Resourcenbeschaffer, auf der Ebene kleinerer Arbeitseinheiten  wie auf der Ebene hochkomplexer Systeme. Er transformiert Irritation in Information.“ (Luhmann 2000, S. 37)

Hierarchie bestärkt Selbstorganisation

Ein weiterer wesentlicher Vorteil von Hierarchie ist das Paradox, dass die reine Anwesenheit von Hierarchie ihre Aufgabe teilweise überflüssig macht. Konflikte werden direkt gelöst, weil die Konsequenzen einer hierarchischen Entscheidung („Machtwort“) unvorhersehbar sind. Die Anwesenheit von Hierarchie bestärkt schon die Selbstorganisation.

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Foto von Robert Ruggiero auf Unsplash

Quellen:

– Luhmann, N. (1993): Die Paradoxie des Entscheides. Verwaltungs-Archiv 84 (3): 287-310

– Luhmann, N. (2000): Organisation und Entscheidung. Frankfurt am Main (Suhrkamp)

– Simon, F., B. (2019): Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg (Carl-Auer)

– Simon, F., B. (2004): Gemeinsam sind wir blöd!? Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten. Heidelberg (Carl Auer)

– Watzlawick, P., J., H. Bevin, D.D. jackson (1967): Menschliche Kommunikation. Bern (Huber), 1969